Vox humana - Singstimme und Orgelpfeifenklang

eine Betrachtung über die Singstimme und den Orgelpfeifenklang und über die Verbindung von Gesanglehrer- und Orgelbauertätigkeit

eingereicht als Abschlussarbeit im Rahmen der Ausbildung zum CRT-Gesanglehrer bei Prof. Eugen Rabine am Institut für funktionales Stimmtraining in Walheim von Kilian Gottwald, Amöneburg, Dezember 2006, im 250. Geburtsjahr von WOLFGANG AMADEUS MOZART

geringfügig bearbeitet im Dezember 2012

Inhaltsverzeichnis

Die Fragestellungen

Erster Teil: Gemeinsamkeiten von Singstimme und Orgelpfeifenklang

1.1. Die unterschiedlichen Orgelregister „Menschenstimme“
1.1.1. Die „voce umana“ in Italien, die „Voix celeste“ in Frankreich
1.1.2. Die „Vox humana“ in Deutschland, die „Voix humaine“ in Frankreich
1.2. Ausgewählte Aspekte des funktionalen Stimmklanges
1.2.1. Das Vibrato der Singstimme
1.2.2. Vibratofreies Singen – historische Aufführungspraxis
1.2.3. Der Luftdruck: die Doppelventil- bzw. Unterdruckventilfunktion
1.2.4. Funktionale Vokale: die Vokaltraktgestaltung
1.3. Schlussfolgerungen
1.4. Weitere begriffliche Übereinstimmungen

Zweiter Teil: Gegenseitige Einflüsse von Gesanglehrer- und Orgelbauertätigkeit

2.1.1. Die Aufgabe des Gesanglehrers
2.1.2. Die Tätigkeit des Lehrers beim funktionalen Gesangunterricht
2.1.3. Funktionales Sehen
2.1.4. Funktionales Hören
2.2.1. Die Aufgabe des Intonateurs im Orgelbau
2.2.2. Die Tätigkeit des Intonateurs im Orgelbau
2.2.3. Sehen bei der Orgelpfeifenintonation
2.2.4. Hören bei der Orgelpfeifenintonation
2.3. Orgelstimmen, Klavierstimmen
2.4.1. Der Orgelintonateur als Gesanglehrer
2.4.2. Chancen und Nutzen der Orgelbaukenntnisse beim Unterrichten
2.4.3. Probleme durch die Orgelbaukenntnisse
2.5. Persönliche Erfahrungen und Ausblick

Anhang

3. Abbildungen: Kehlkopf und Vox humana-Schallbecher
4. Die Legende von der Vox humana im Kloster Weingarten
5. Literaturhinweise
6. Dank

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Die Abbildung auf dem Titelblatt zeigt Pfeifen des Orgelregisters „Vox humana“ in der berühmten Gabler-Orgel von 1750 der Klosterkirche Weingarten (Schwaben). Die Resonanzaufsätze aus Zinn sind der Form des menschlichen Kehlkopfs nachgebildet mit einer Art Mundöffnung.

Die Fragestellungen

„Die Menschenstimme zittert schon selbst, aber so, in einem solchen Grade, dass es schön ist: das ist die Natur der Stimme. Man macht ihrs auch nicht allein auf den Blasinstrumenten, sondern auch auf den Geigeninstrumenten nach, ja sogar auf den Clavieren.“

WOLFGANG AMADEUS MOZART äußert sich in einem langen Brief an seinen Vater Leopold vom 12. Juni 1778 in dieser Weise über die Singstimme. Er kommentiert die Singweise des Tenors JOSEF MEISSNER im Vergleich mit der des berühmten ANTON RAAF (der erste Idomeneo), an der ihn eine offenbar unschöne Bebung stört. Die Stimme dieses Sängers mag wohl eine unangenehm langsame oder schnelle Stimmbewegung, also „Whobble“ oder „Tremolo“ besessen haben. Mozart schreibt, der Sänger übertreibe dieses Beben und stellt vermutlich zu Recht also eine Art „gemachtes“ Vibrato mit einer möglicherweise auch zu großen Amplitude nach oben und unten fest. Eine stetige Bewegung, eben das, was wir heute „Vibrato“ nennen, ist für Mozart jedenfalls normaler, angenehm und schön klingender Bestandteil der Singstimme. Mozart war ja nicht nur Komponist und Klavier- und Geigenvirtuose, sondern auch gefragter Pädagoge und hatte sogar Gesangschüler. Zum Wesen des großen Musikinstrumentes Orgel gehört das grundsätzliche Gegenteil: die Starrheit des Tones der von gleichmäßigem Luftdruck betriebenen und vom Organisten eingeschalteten Orgelpfeifen ist geradezu das Hauptcharakteristikum. Durch die Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Klangfarben, die darüber hinaus auch in unterschiedlichen Tonhöhen kombinierbar sind, besitzt die Orgel bekanntlich dennoch enorme dynamische Möglichkeiten. Es werden ja sogar Pfeifenreihen, „Register“ gebaut, die lediglich aufhellende und färbende Obertöne der Normaltonlage darstellen und die zu anderen Stimmen hinzugeschaltet werden.

Nun sind aber im Orgelbau seit der Renaissance-Zeit Orgelregister im Gebrauch, die ausdrücklich mit dem Namen „Vox humana“, „Voce umana“, „Voix humaine“, also lat., ital., franz. „Menschenstimme“, bezeichnet sind, ja auch Namen wie „Jungfrauenregal“, „Altmännergesang“ kommen in mehreren Epochen und Landschaften vor. Die Orgelregister mit Namen wie „Vox coelestis“ („Himmelsstimme“) oder „Vox angelica“ („Stimme der Engel“) kann man hier auch einbeziehen. Dies scheint dem Wesen der Orgel grundsätzlich zu widersprechen. Eine erste Fragestellung soll verschiedene Aspekte von Übereinstimmungen und Unterschieden zwischen dem Klang und der Bauweise dieser Orgelregister bzw. dem Instrument Orgel an sich und der Singstimme mit ihren physiologischen und physikalischen Gegebenheiten betreffen. Wird vielleicht auch in dem Tasteninstrument Orgel (das ja eine Art „Clavier“ ist) das „Zittern“ = Vibrato der Singstimme nachgeahmt? Daneben werden auch sonstige auffällige begriffliche Übereinstimmungen der Bereiche Gesang und Orgelbau untersucht und erläutert („Intonation“, „Stimmregister“, „Tragfähigleit“ u.a.).

Eine zweite Aufgabe soll es sein, Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen der Tätigkeit als Gesanglehrer und als klanggestaltender Orgelbauer herauszuarbeiten und die gegenseitige Beeinflussung beider Tätigkeiten zu beleuchten. Der Verfasser hat den Orgelbauerberuf erlernt und übt ihn seit etwa siebzehn Jahren aus. Seit zwei Jahren kommt die Gesanglehrertätigkeit hinzu. So können zu dieser Frage persönliche Erfahrungen und Gedanken für zukünftiges Arbeiten beigesteuert werden.



Erster Teil: Gemeinsamkeiten von Singstimme und Orgelpfeifenklang

1.1. Die verschiedenen Orgelregister „Menschenstimme“

Es sind grundsätzlich zwei Arten von Orgelpfeifen und damit Orgelpfeifenreihen, also Register, zu unterscheiden:
Die häufigere, einfachere Bauweise als Labialstimme („Lippenstimme“) entspricht in Funktion und Grundaufbau der Blockflöte. Ein Luftband schwingt periodisch in eine Luftsäule in einer Röhre hinein und regt sie mittels der entstehenden Luftstöße zum koordinierten Schwingen an, der Pfeifenkörper „resoniert“. Für die Tonhöhe ist die Länge der Luftsäule entscheidend, die ihre Frequenz dem schwingenden Luftband aufzwingt. Je nach Einzelbauweise besitzen diese Orgelregister einen gewissen begrenzten Obertonreichtum.
Die aufwendigere, seltenere Bauweise als Lingualstimme („Zungenstimme“) funktioniert etwa nach Art der Einfach-Rohrblattinstrumente wie Klarinette oder Saxophon. Eine schwingende Metallzunge lässt periodische Luftstöße frei, die einen schwachen, rasselnden Klang ergeben, der durch einen Resonanzaufsatz verstärkt werden muss. Diese Resonanzkörper, Schallbecher genannt, können sehr unterschiedliche Formen haben und müssen in ihrer Länge nicht unbedingt auf die Wellenlänge der jeweiligen Tonhöhe bezogen sein, da hier die Tonhöhe durch die Länge der Zunge und damit durch die Frequenz der Zungenschwingung definiert ist. Solche Zungenstimmen sind aber stets sehr obertonreich.
Obgleich nun diese beiden Bauarten sehr unterschiedliche klangliche Ergebnisse hören lassen, gibt es Orgelregister mit der Bezeichnung „Menschenstimme“ hier wie dort. Sie klingen auch tatsächlich äußerst verschieden. Wodurch ist nun dieser seltsame Name, der darüber hinaus in fast allen wichtigen Orgellandschaften auftaucht und bis heute gebräuchlich ist, gerechtfertigt? Was hat die Singstimme mit dem Orgelpfeifenklang gemeinsam?

1.1.1. Die „Voce umana“ in Italien, die „Voix celeste“ in Frankreich

Das labiale Register „Voce umana“ ist in praktisch jeder nicht ganz kleinen historischen italienischen Orgel anzutreffen von der Renaissancezeit (älteste Belege um 1560) bis in das 19.Jh. hinein, hier und dort abgewandelt auch in Süddeutschland und angrenzenden Regionen. Die Bauweise ist stets so, dass man eine labiale Pfeifenreihe absichtlich etwas zu hoch stimmt (nur in der Gegend von Venedig zu tief, was zu musikpsychologischen Betrachtungen Anlass sein könnte) und sie dann zu einer normal gestimmten Grundreihe („Principale“) hinzuschaltet. Durch die Verstimmung entsteht eine stark hörbare Schwebung: da sich gleich hoch gestimmte und weitgehend gleich gebaute Lippenpfeifen zusammen nicht etwa verstärken, sondern abschwächen (Interferenz), entsteht bei nur annähernd gleicher Tonhöhe eine periodische Abschwächung. Der sonst typischerweise feste, statische Orgelpfeifenklang wird also durch das Register „Voce umana“ in Schwingung, in sanfte Bewegung, in ein Art Vibrato gebracht. In Verbindung mit dem immer eher geringen Winddruck der italienischen Orgel ist die Beschreibung „singend“ oder „gesanglich“ für diese eigentümliche Orgelstimme sehr passend, wenngleich es sich hier eher um ein Lautstärken- als um ein Tonhöhenvibrato handelt (s.u.). Die Orgelregister „Vox coelestis“ oder „Voix celeste“ („Stimme des Himmels“) des französischen und deutschen Orgelbaus im 19. Jahrhundert haben übrigens eine ähnliche Funktionsweise, werden aber mit leise und ätherisch klingenden, sozusagen „überirdisch“ gearbeiteten Pfeifenreihen ausgestattet. Die Wirkung ist dadurch zauberisch, mitunter ein wenig sentimental. Die „Principale“- Reihen der italienischen Orgel liegen dagegen sozusagen in der Mitte der möglichen Klangspektren von Labialpfeifenreihen, sie klingen nicht säuselig oder streichinstrumentenartig scharf und nicht dick oder dumpf, sondern gewissermaßen „normal“ und liegen auch in der Lautstärke auf einem mittleren Niveau.

1.1.2. Die „Vox humana“ in Nieder- und Oberdeutschland, die „Voix humaine“ in Frankreich

Die französischen oder deutsch/niederdeutschen Vox-humana-Register besitzen die Bauweise der Zungenregister und dadurch einen vollkommen anderen, hell schnarrenden, näselnden Klangcharakter. Vermutlich hat man zuerst in Frankreich Orgelregister nach Stimmen von Lebewesen benannt (um 1500), in Deutschland datieren die ältesten Belege kurz vor 1600. Eine Besonderheit ist, dass praktisch immer bei diesem Register von der Baßlage bis in den Sopranbereich recht kleine Resonanzaufsätze zur Verstärkung des Zungentones verwendet werden. Dadurch werden bestimmte über den gesamten Klaviaturumfang hinweg absolut gesehen weitgehend gleich hohe oder ähnlich hohe Obertöne verstärkt. Diese Aufsätze erinnern stets mehr oder weniger an die Form und Größe des menschlichen Kehlkopfes, es gibt in der großen Barockorgel der Klosterkirche Weingarten sogar ein Exemplar, das augenscheinlich die äußere anatomische Form des Kehlkopfes nachzuahmen sucht (siehe Titelblatt). Der eigentliche Mundraum als Resonator ist hierbei nicht miteinbezogen, die Schallbecher haben aber eine regelrecht mundförmige Öffnung. Zu beachten ist bei diesen Konstruktionen, dass ja schon seit der Renaissancezeit die Erkenntnisse über den menschlichen Körper beachtlich zugenommen hatten, wenngleich die tatsächliche physiologische Funktion der Stimme erst im 19. Jahrhundert genauer erfasst werden konnte.
Der klangliche Eindruck all dieser Orgelregister ähnelt dem der menschlichen Stimme an sich zwar nur bedingt, das Charakteristikum der über einen großen Tonumfang gleichbleibenden oder fast gleichbleibenden Obertöne erinnert jedoch auffallend an die Formanten der Singstimme! Speziell der als Brillanz hörbare, sehr tragfähige Sängerformant (2800-3200 Hz) und individuelle Formanten („Timbre“) sind nicht abhängig von der gesungenen Tonhöhe. In der Klaviaturmitte ungefähr beim Ton dis’ treten regelmäßig Schwierigkeiten auf, die Pfeifen schön zum klingen zu bringen. Hier gibt es anscheinend Resonanzkonflikte.
Wenn man in der historischen zeitgenössischen Literatur Hinweise zum Gebrauch dieser Vox-humana-Stimmen sucht, wird dort fast immer das Hinzuregistrieren einer gleich hohen Labialstimme empfohlen, die den schwachen Grundton der Zungenpfeifen auffüllt (GOTTFRIED SILBERMANN, um 1730). Eine gute Sängerstimme besitzt ja immer auch ausgeprägte Grundtöne unter den Obertönen bzw. Formanten. Das können Zungenpfeifen mit ganz kleinen Resonanzkörpern weniger gut leisten. Ein Weiteres kommt noch hinzu:
Fast stets ist auf demjenigen Orgelteilwerk, wo das Register „Vox humana“ angeordnet ist, auch ein sogenannter „Tremulant“ zu finden. Das ist eine mechanische Vorrichtung, die den Orgelwind, also die komprimierte Luft, so modifiziert, das eine vibratoartige Schwingung entsteht. Es findet sich auch immer wieder der ausdrückliche Hinweis, dass die Vox humana nur mit dem Tremulant zu brauchen sei, weil sie sonst die Singstimme nicht genau nachahmt (DOM BEDOS DE CELLES 1766: Man verwendet den Tremulant „um den Klang der Voix humaine zu beeinflussen, die anders die natürliche menschliche Stimme niemals richtig imitiert“, in einem Orgelbauvertrag von SILBERMANN heißt der Tremulant „Schwebung zur Menschenstimme“, obwohl er ja auch zu anderen Registern gebraucht werden kann). Also auch hier ist eindeutig der Aspekt Vibrato für die Berechtigung des Orgelregisternamens „Vox humana“ mitbeteiligt, auch wenn hier anders als bei der Stimme zur Tonhöhen- auch eine sehr deutliche Lautstärkenschwingung hinzukommt, bei der das Sinken der Tonhöhe mit dem Sinken der Lautstärke einhergeht (s.u.). Wegen der Schwierigkeit in früherer Zeit, eine gleichmäßig und angenehm schnell pulsierende Tremulantenvorrichtung anzufertigen, wird man deren Vibratofrequenz und -Amplitude jedoch besonders in alten Orgeln nicht immer als sehr glücklich bezeichnen können, von wenigen sehr guten Exemplaren abgesehen. Das beklagte schon DOM BEDOS. Heute gibt es zu diesem Zweck selbstverständlich sicherere mechanische oder elektrische Apparate als Tremulanten, bei denen häufig die Geschwindigkeit und auch die Amplitude verstellbar sind. Die Orgelregister, welche den Klang der Querflöte oder der Oboe imitieren, klingen erfahrungsgemäß am schönsten mit einer Tremulantenfrequenz, die dem Sängervibrato nahekommt.

1.2. Ausgewählte Aspekte des funktionalen Stimmklanges

Die vorangegangene Darstellung zeigt bestimmte Aspekte des Klangs und der Bauweise dieser verschiedenen Orgelregister auf, die auf den funktional ausgebildeten Stimmklang für den Kunstgesang hindeuten. Daher sind wichtige Elemente näher zu beleuchten. Es interessieren insbesondere die Aspekte Vibrato, Luftdruck und Resonanzraumform, also Gestaltung des Vokaltraktes.

1.2.1. Das Vibrato der Singstimme

Das, was Mozart „Zittern“ der Stimme nennt, wird heute als „Vibrato“ bezeichnet. Nach RABINE ist es eine innere, sinusartige Bewegung der Stimme in einer Geschwindigkeit von 5 bis 7 Hz möglichst genau um einen Viertelton über und unter die Grundtonfrequenz des jeweils gesungenen Tones mit einer gleichzeitigen periodischen leichten Lautstärkeänderung. Die Ausschläge nach oben sind verbunden mit einer geringen Masseabnahme, diejenigen nach unten mit einer Zunahme. Damit ist der obere Schwingungsteil ein klein wenig leiser als der untere. Das Vibrato entsteht bei optimal effizienter Funktion der Stimmlippen bzw. zeigt diese regelrecht an. Voraussetzung dafür ist der Ausgleich zwischen Stimmlippenmasse, Stimmlippenspannung und subglottischem Luftdruck in Zusammenhang mit einer guten Resonanzraumgestaltung. Die Stimmlippen selber produzieren das Vibrato als eine große langsame Schwingung, welche die um ein Vielfaches schnellere Phonationsschwingung (entsprechend der Grundtonfrequenz ungefähr 60 bis über 1000 Hz) mit ihren nochmals schnelleren Einzelluftstößchen, die zu Teiltönen des Stimmklanges verstärkt werden, gewissermaßen überlagert. Dieser Vorgang erfolgt ermüdungsfrei und ist auch entscheidender Bestandteil der Energieumwandlung, bei der es zu keiner Reibungswärme im Stimmlippenbereich kommen darf. Somit kann man dem Vibrato unbedingt auch eine gesundheitsfördernde Aufgabe beimessen, denn Reibung der Stimmlippen aneinander kann zu Schäden bis hin zu Stimmlippenknötchen führen.

Andere vibratoähnliche Schwingungsarten sind auch verschiedentlich anzutreffen: Ist die Schwingungsfrequenz zu schnell, spricht man von „Tremolo“, ist sie zu langsam, von „Whobble“. Darüberhinaus kommen auch künstlich gemachte Varianten vor, wie z.B. eine allein durch die Atmung hervorgerufene Bebung oder eine periodische Bewegung der Zunge oder gar des ganzen Kopfes. Im Kunstgesang, häufig aber im Populargesang kommt dies vor und kann eventuell dort auch seine Berechtigung haben. Das Vibrato hat für den Kunstgesang in der Tat die Bedeutung, die ihm Mozart offenbar beimisst; es wird allgemein als schön empfunden. Die Übertragung der Emotion aus der Komposition zum Hörer ist bei gutem Vibrato am eindringlichsten, man kann sagen, dass tatsächlicher echter Emotionstransport, wie er im Kunstgesang gefordert ist und der völlig unabhängig von der Privatemotion des Sängers ist, überhaupt nur so möglich ist.

Außerdem ist die Tonhöhendefinition für das Gehör und das Gehirn am eindeutigsten und angenehmsten, wenn das Vibrato gleichmäßig um eine Grundtonfrequenz schwingt. Dieser Effekt ist vielleicht vergleichbar mit dem Eindruck einer Farbe, die, von weitem gesehen, sehr klar zu definieren ist und leuchtend und warm wirkt, aus der Nähe jedoch aus nebeneinander gesetzten verschiedenfarbigen Punkten besteht. Auch für den Sänger ist das Vibrato etwas sehr Angenehmes. Man kann vielleicht sogar von einer permanenten „Stimmlippenmassage“ sprechen. Obwohl das Vibrato von selber entsteht, kann es auch beeinflusst werden, bis hin zu Produktion vibratofreier Töne. Diese können als ein spezieller Effekt in ein Gesangstück eingebaut sein, es kann aber auch im Rahmen der „historischen Aufführungspraxis“ (s.u.) die Forderung nach einer Modifizierung des Vibrato gestellt werden. Bei langen Tönen ist z.B. es sehr beliebt, das Vibrato sukzessive zu steigern als ein künstlerisches Mittel. Wenn im funktionalen Gesangunterricht sehr häufig Glissandoübungen angewendet werden, erfolgt das „Gleiten“ von einem Anfangston zum Zielton auch ohne Vibrato (anders als beim Portamento), es wird aber hier nur sozusagen angehalten und ist zu Beginn und zum Schluss immer vorhanden, der neurologische Impuls bleibt also wirksam.

Auch für das rhythmische Empfinden ist die gleichmäßig durchlaufende Vibratofrequenz entscheidend. RABINE definiert Singen ja generell als eine Bewegung in Raum und Zeit! Schließlich erfolgt auch die Tonhöhenregelung, das Singen von Tonschritten, Läufen, Trillern am besten im Zusammenhang mit dem Vibrato.

1.2.2. Vibratofreies Singen – historische Aufführungspraxis

An dieser Stelle sei noch auf das vibratofreie Singen eingegangen, wie es im Rahmen der sogenannten „historischen Aufführungspraxis“ heute oft von Sängern und Instrumentalisten gefordert wird. Der gerade Ton der Streichinstrumente und der Singstimmen, der lediglich an- oder abschwellen darf, ist für diese Interpretationsrichtung der Musik aus Renaissance und Barock geradezu typisch. Auch in der chorischen Arbeit begegnet man häufig der strikten Forderung nach geraden Tönen, und zwar durchaus nicht immer nur dann, wenn alte Musik gemacht wird. Das Sängervibrato gilt vielen Chorleitern (und keineswegs nur Amateuren!) geradezu als etwas höchst Negatives und den Chorklang Beeinträchtigendes. Man kann also nicht selten Chorstücke von Brahms oder Mendelssohn völlig vibratofrei hören. Gleichzeitig wird allerdings den Gesangsolisten oft nicht nur das Vibrato gestattet, sondern es werden ohne weiteres auch Solostimmen mit Tremolo oder Whobble toleriert. Für Chorsänger mit ausgebildeter Stimme kann dies eine sehr unangenehme Situation und sehr anstrengend sein.

Der Konflikt „Alte Musik“ und „Vibrato“ besitzt sicherlich noch ein großes Diskussionspotential, obwohl es vielleicht gar kein Konflikt sein müsste. Keineswegs kann ja vibratofreies Musizieren grundsätzlich als hässlich oder emotionsfrei bezeichnet werden; diese Einschätzung würde ja dann auch diejenigen Instrumente treffen, die von jeher in der ernsten Musik vibratofrei gespielt werden, z.B. alle Blechblasinstrumente, wo irgendwelche Bebungen vor allem bei Naturhörnern und -Trompeten in der hohen Lage technisch nahezu unmöglich sind, oder die auch bei Mozart ganz neuen und beliebten Klarinetten und Bassethörner (in der Jazzmusik ist das bei Posaunen oder Klarinetten natürlich nicht so). Im Eingangszitat dürfte sich Mozart wohl auf die anderen Holzblasinstrumente, vor allem auf die Oboen, die Fagotte und die Querflöten beziehen. Es wird sicherlich auch noch lange diskutiert werden können, ob im Ensemblegesang immer das volle Vibrato der Kunstgesangstimme die einzige Möglichkeit ist oder ob umgekehrt Renaissancemadrigale immer nur mit völlig geradem Ton wirklich schön klingen. Ensembles wie etwa die KINGS SINGERS sind hinsichtlich des Vibratos neuerdings auch hörbar offener und beweglicher geworden. Von Orchestermusikern und Gesangsolisten gleichermaßen wird jedenfalls inzwischen eine große Flexibilität in aufführungspraktischer Hinsicht verlangt, sodass aus einem variablen Umgang mit dem Vibrato auch Bereicherung entstehen kann und alle Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Sehr gute Blockflötisten erzeugen beispielsweise heute auch bei streng historischer Aufführungsweise auf langen Haltetönen ein Vibrato, indem sie mit einem Finger über einem ungenutzten offenen Loch gewissermaßen tremolieren und es dadurch periodisch teilweise decken. Das verlangt eine hohe technische Fertigkeit und gibt dem allzu starren Ton dieser Instrumente einige Wärme. Diese Feinheit geht wohl auf genaues Quellenstudium zurück.

1.2.3. Der Luftdruck beim Gesang: die Doppelventil- bzw. Unterdruckventilfunktion

Die Funktion der Stimmlippen als Vibrator bei der Phonation, also als Frequenzgenerator, ist evolutionär eine späte und nachgeordnete Modifikation ihrer ursprünglichen Aufgabe als Ventil. Gemeinsam mit den zuerst entstandenen Taschenfalten, die zum Behalten im Wasser aufgenommenen Sauerstoffes an Land nötig waren, können die Stimmlippen als dann doppeltes Ventil Überdruck in der Lunge festhalten (spürbar beim Pressen; Stimmlippen und Taschenfalten schließen dicht). Bei Unterdruck in der Lunge schließen nur die in ihrer Form dafür geeigneten Stimmlippen (spürbar bei Einatmungsaktivität mit geschlossenen Stimmlippen). Es besteht außerdem auch ein sehr starker, nicht zu unterbindender Schließreflex zum Schutz der Lunge vor Fremdkörpern. Das ist die biologische Hauptfunktion der Stimmlippen. Aus diesen biologischen Fakten wird in der funktionalen Stimmbildung abgeleitet, dass für die Phonation eine Modifizierung der Unterdruckventilfunktion genutzt wird. Die Stimmlippen haben hierfür und nicht für das Zupressen gegen Überdruck die geeignete Form. Selbstverständlich herrscht beim Singen in der Lunge kein Unterdruck, denn es muss ja Luft von innen nach außen strömen, es soll aber nur gerade soviel Überdruck wie notwendig angewendet werden. Es herrscht also auch bei ausströmender Luft weiterhin eine Einatmungstendenz. Insofern ist der Begriff Doppelventilfunktion angemessen: die Stimmlippenform als Unterdruckventil wird respektiert, die Schwingung für die Phonation entsteht durch leichten Überdruck. Der Schließreflex wird dafür Sekundenbruchteile vor dem tatsächlichen Verschluss unterbrochen. Da relativ wenig Luftdruck aufgebaut wird, brauchen sich dabei nur die Schleimhäute der Stimmlippen zu berühren, und die Qualität der Schwingung ist sehr fein und gut; der Luftstrom wird sehr vollständig in Schwingungsenergie umgewandelt. Es werden Vibrationen geliefert, die im Vokaltrakt zu flexibelstem, tragfähigem Klang verstärkt werden können mit günstigem Teiltonspektrum. Es stellt sich bei dieser Art des Singens, wie bereits gesagt, auch das Sängervibrato ein. Dieses ist geradezu ein Anzeiger für das Gleichgewicht der verschiedenen beteiligten Kräfte und die daraus resultierende Effektivität.

1.2.4. Funktionale Vokale: die Vokaltraktgestaltung

Wie bei einer lingualen Orgelpfeife oder einem Rohrblattinstrument benötigen die schwingenden Stimmlippen einen Resonanzraum zur Verstärkung, den Vokaltrakt. Es handelt sich dabei um den Rachenraum oberhalb der Stimmlippen und den Mundraum. Ziel des Gesangunterrichts ist stets die Vergrößerung dieses Raumes, was in erster Linie durch Kehlkopfsenkung zu erreichen ist. Der so gebildete Raum hat eine etwas komplizierte und dabei höchst flexible geometrische Form, die nach HELMHOLTZ in etwa mit zwei aneinander gekoppelten kugelförmigen Hohlräumen beschrieben werden kann. Der Kehlkopf selber hat jedoch eine eher röhren- oder trichterförmige Gestalt, wenn auch sozusagen recht verwinkelt. Der Vokaltrakt besitzt in jedem Fall auch eine eigene Frequenz, sozusagen eine Tonhöhe und ist dennoch in der Lage, einen verblüffend großen sängerischen Tonumfang zu verstärken. Bei akustischen Konflikten in der bei der Männer- und Frauenstimme gleichhohen sogenannten „Bruchlage“, also den Tönen von etwa d' bis fis', zeigt sich eine Schwierigkeit der Anpassung an die beabsichtigte Grundtonfrequenz, weil diese Tonhöhe der Eigenfrequenz des Raumes unterhalb der Stimmlippen entspricht. Darüber und darunter kann der Kehlkopf besser ein Vielfaches der Grundtonfrequenz und viele Obertöne verstärken. Auch bei den Orgelpfeifen, die als Zungenregister gebaut sind, hat man erstaunlicherweise in dieser Lage oft akustische Konflikte zwischen dem Schallbecher und dem Luftraum unterhalb der schwingenden Metallzunge!

Das klangliche Ergebnis guter stabiler Vokaltraktgestaltung bei tief stehendem Kehlkopf ist ein in jeder Tonhöhe im Grunde gleichbleibendes Timbre mit genügend starkem Grundton und dem für die Sängerpersönlichkeit charakteristischen Obertonspektrum, ein deutlicher Sängerformant von 2800 bis 3200 Hz nahezu gleichbleibend in jeder Tonhöhe für Tragfähigkeit (er entsteht bei der richtigen Größe des untersten Vokaltrakteiles, des Vestibüls, als Sonderresonator direkt über den Stimmlippen) und die Möglichkeit der Bildung aller Vokalformanten (im Rahmen der Tonhöhe) für eine klare Vokalartikulation. Dass sich hierbei auch problemlos gut hörbare Konsonanten bilden lassen, sei nur am Rande erwähnt.

1.3. Schlussfolgerungen

Aus diesen kurzen Betrachtungen ausgewählter Aspekte des funktionalen Stimmklangs und dem Vergleich mit den geschilderten Eigenheiten der „Vox humana“-Orgelregister ergeben sich nun tatsächlich auffällige Ähnlichkeiten.

Das Sängervibrato taucht eindeutig in allen Varianten der „Vox humana“-Orgelregister auf. Stets begegnen wir einem auf jeweils geeignete Weise erzeugten Vibrieren („Zittern“), sei es in Italien als Interferenzschwebung oder in Frankreich und Deutschland erzeugt mittels mechanischer Tremulant-Apparatur. Exakt kann allerdings das Sängervibrato mit Orgelpfeifen nicht nachgeahmt werden. Die Italienischen „Voce umana“-Orgelregister werden wie die dortigen Instrumente überhaupt mit durchweg eher geringem Luftdruck betrieben. Die Pfeifen werden nur gerade so stark angeblasen, dass sie warm und angenehm sprechen bzw. „singen“. In größeren Kirchen wird nicht der Druck erhöht, sondern einige tiefe Pfeifen für grundtönigen Klang und viele kleine hohe Pfeifen für die nötige Brillanz werden hinzugefügt.

Die französischen und deutschen Zungenregister „Vox humana“ bzw. „Voix humaine“ besitzen schließlich Resonanzkörper, die dem menschlichen Kehlkopf in Form und Größe auffallend ähneln und einen über den gesamten Tonumfang absolut nahezu gleichbleibend hohen Obertonaufbau, eventuell mit Obertönen nahe dem Sängerformanten ergeben . Zusammengefasst können wir daher feststellen:

Die Orgelregister, die als „Menschenstimme“ bezeichnet wurden und werden, stehen je nach Bauart hinsichtlich des Vibratos, hinsichtlich des druckarmen, ausgeglichenen Klangs (Italien) und hinsichtlich eines über den gesamten Tonumfang gleichbleibenden Obertonbestandes (Frankreich, Deutschland u.a.) eindeutig in einem Zusammenhang mit den wichtigsten Elementen der Singstimme im Kunstgesang.

Mit den Zielen der funktionalen Stimmbildung lassen sich diese Ähnlichkeiten aufallend gut begründen.

Diese Tatsache ist bemerkenswert insbesondere für Musikhistoriker, für die sog. historische Aufführungspraxis, für Gesanghistoriker und -forscher, weist sie doch völlig eindeutig darauf hin, dass mindestens in der Zeit der Entstehung dieser Orgelregister, also seit der Renaissance, das Singstimmenvibrato eine völlige Selbstverständlichkeit gewesen sein muss, und zwar jedenfalls in Italien, wahrscheinlich auch in Frankreich, Deutschland usw. Wenn in alten gesangspädagogischen Werken (z.B. TOSI / AGRICOLA 1757) vom Vibrato der Stimme überhaupt nicht oder kritisch gesprochen wird, so kann das möglicherweise als berechtigte Ablehnung disphonischer Schwingungen wie Tremolo und Wobble, eventuell auch verbunden mit zu großer oder ungleich um den Grundton verteilter Amplitude zu deuten sein und betrifft das selbstverständliche Vibrato gar nicht. Überhaupt ist auf die beträchtliche Schwierigkeit beim Umgang mit historischen Quellen hinzuweisen. Was z.B. meint QUANTZ, wenn er schreibt, dass beim Querflötenspiel das „Hin- und wiederziehen“ der Lippen den Ton „zugleich schwebend und annehmlich“ macht? Man kann jedenfalls mit Gewissheit sagen, dass die verschiedenen Orgelregister „Vox humana“ bis zum heutigen Tag authentische Zeugen für entscheidende Elemente der Singstimme und für die Singweise mindestens der letzten vier Jahrhunderte sind.

1.4. Weitere begriffliche Übereinstimmungen

Hier sollen noch einige weitere begriffliche Übereinstimmungen zwischen Gesanglehre und Orgelbau beleuchtet werden, mit denen nicht immer die gleichen Sachverhalte gemeint sind.

Zunächst wird im Orgelbau gerne von „vokaler Intonation, vokalem Klang“ gesprochen. Hier ist zu beachten, dass der Begriff „Intonation“ im Orgelbau nur die Ausarbeitung des Klangcharakters und des Ansprechverhaltens der Pfeifen gemeint ist, nicht die Festlegung der Tonhöhe. Letzteres wird immer als „Stimmung, Stimmen“ bezeichnet. In der Gesanglehre hingegen wird anstelle von „Stimmung“ (singende Menschen werden nicht gestimmt!) als Herstellung und Fixierung einer bestimmten Tonhöhe von „Intonation“ gesprochen. Mit „vokaler Intonation“ ist also so etwas wie „natürlicher“, singender, klarer Klang gemeint. Bei dem einzelnen Register kann man dann in etwa sagen, dass es nach „a“, nach „ü“ etc. klingt. Derartige Beschreibungen müssen naturgemäß recht unklar bleiben und jeder Instrumentenbauer kommt mit einem solchen Anspruch an den Klang zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen. Übereinstimmen wird wohl immer, dass ein stark gepresster Klang weniger „vokal“ sein wird, doch selbst hier werden verschiedene Meinungen existieren. Die wenigsten Orgelbauer dürften über die Grundlagen der Singstimmfunktion ausreichend unterrichtet sein, und eine Formulierung wie der „vokale“ Klang einer Stimme ist sachlich mindestens unklar. In der funktionalen Stimmbildungsarbeit wird man stets bestrebt sein, genau den Aspekt zu benennen, um den es in dem jeweiligen Fall (in einer Unterrichtsstunde, bei einem Fachgespräch) geht. Das kann z.B. die Beschreibung eines Stimmklanges an sich oder bei einem bestimmten Vokal oder ähnliches sein. Ein Vokal (a, e, i, o, u, etc.) kann einen bestimmten Klang haben, eine Klangfarbe aber mit dem Wort „vokal“ als Adjektiv zu beschreiben, ist fachlich problematisch.

Mit dem Ausdruck „Tragfähigkeit“ verhält es sich folgendermaßen: In der funktionalen Stimmtheorie wird Tragfähigkeit als die Fähigkeit definiert, aufgrund eines bestimmten Klangreichtums auch in großen Räumen über einem Orchester oder einem Chor noch hörbar singen zu können. Im Orgelbau wie übrigens oft auch beim Chorgesang hingegen bedeutet Tragfähigkeit soviel wie Fundament, also die Möglichkeit, einen guten klanglichen Unterbau bilden zu können. Von einem tiefen Baßregister einer Orgel erwartet man das wie auch von einem Baß-Choristen. Kräftiger Grundton und gut entwickelte tiefere Teiltöne sind also im letzteren Fall, starke hohe Frequenzen, möglichst in Form des Sängerformanten von ca. 2800 bis 3200 Hz im ersteren Fall gemeint. Vermieden werden sollten Schrillheit (noch höhere Formanten) oder Nasalität (tiefere). Hier muss sängerische Tragfähigkeit dann meist durch erhöhten Luftdruck erzielt werden, die klangliche Attraktivität leidet.

Der Begriff „Stimmregister“ ist eine sehr konkrete Entlehnung aus dem Orgelbau. Das Wesen des Instrumentes Orgel besteht ja auch darin, eine mitunter sehr große Auswahl- und Kombinationsmöglichkeit von verschiedenen Klangfarben, „Registern“, zur Verfügung zuhaben. Das innere Empfinden und das hörbare Ergebnis der beiden Singstimmregister massedominant („Bruststimme“) und spannungsdominant („Kopfstimme“) ist meist ähnlich deutlich unterscheidbar und es gibt einen mehr oder weniger merklichen oder sogar unangenehmen Bruchlagenbereich dazwischen, wo geübte Sänger zwischen den Stimmregistern wählen können. In einer begrenzten Mittellage ist auch eine Kombination beider Stimmregister möglich als eine gute Pianofarbe, die sog. „mezza voce“. Im Orgelbau heißt „Register“, dass eine Pfeifenreihe mit Einzeltonpfeifen gleicher Bauart und gleichen Klangs existiert, die der Organist einschalten kann. Eine solche Reihe enthält im Prinzip so viele Pfeifen, wie die Klaviatur Tasten besitzt. Die Zahl der Register einer Orgel definiert ihre Größe, die Zusammenstellung („Disposition“) ihren klanglichen Stil. Wenn ein Orgelregister die normale Tonhöhe besitzt, bekommt sein Name die altertümliche Längenangabe „8 Fuß“ als Zusatz, weil seine tiefste Pfeife bei offener labialer Bauart diese Länge hat (etwa 2,20 Meter). Der Klaviaturumfang mit einem solchen Register entspricht dann relativ genau dem gesamten Stimmumfang des Menschen von groß C (die gewöhnlich tiefste Note der Bässe) bis f³, g³ oder a³ (höchster Sopranbereich). Das Wort „Register“ scheint von lat. „regula“ (Reihe) zu stammen. Im allgemeinen Sprachschatz hat der Orgelbau damit übrigens ja auch seinen Platz gefunden, wenn z.B. formuliert wird, dass jemand „alle Register zieht“, also alle seine Möglichkeiten ausspielt.

Auf die Vorrichtung zur periodischen Bewegung des an sich starren Orgelklangs mit dem Namen „Tremulant“ wurde schon hingewiesen. Der verwandte Begriff „Tremolo“ in der Gesanglehre bezeichnet dagegen etwas negatives, nämlich eine gegenüber dem Vibrato schnellere Schwingungsfrequenz (schneller als 7 Hz). Die Tremulanten im Orgelbau können dagegen höchst unterschiedliche Frequenzen und Amplituden haben (lat. tremor, „Zittern, Beben“).

Zweiter Teil: Gegenseitige Einflüsse von Gesanglehrer- und Orgelbauertätigkeit

2.1.1. Die Aufgabe des Gesanglehrers

Der Lehrer beim funktionalen Gesangunterricht hat die Aufgabe, aus den physiologischen Gegebenheiten eines Schülers oder einer Schülerin heraus deren Singstimme zu entwickeln und zu trainieren. Bestimmte stimmliche Ideale bzw. Notwendigkeiten sind hier leitend: Aufgrund einer grundsätzlich optimalen Funktion der Stimmlippen und damit zusammenhängend des Atemapparates sowie einer guten Gestaltung des Vokaltrakts als Resonanzraum müssen die Parameter Tonhöhe (Stimmlippenspannung), Lautstärke (Stimmlippenmasse) und Vokalfarbe beliebig im Rahmen des Möglichen kombinierbar sein, schnelle und langsame Tonbewegungen, Staccato und Legato sowie Konsonantenartikulation müssen gut funktionieren. Die Stimme sollte im Rahmen des je eigenen Timbres eine zuverlässig ungestörte innere Stimmbewegung, das Vibrato, besitzen und zu einem klaren Grundton und den Vokalformanten genügend Tragfähigkeit (Sängerformant) auch für große Räume aufweisen. Ein guter Einsatz und Absatz sollten schließlich auch erreicht werden. Nach den Voraussetzungen der Schüler werden sich darüber hinaus nach einigen Jahren unterschiedliche Stimmfächer herausstellen, deren spezifische Anforderungen dann gesondert herausgearbeitet werden (z.B. Koloratursopran mit der typischen Höhe und großer Geläufigkeit). Dabei geht es aber prinzipiell um das Feststellen, nicht Herausbilden, gewissermaßen „Züchten“ eines Stimmfaches. In jedem Fach müssen weiterhin alle genannten Faktoren berücksichtigt werden (auch der Koloratursopran z.B. benötigt Stimmlippenmasse für warme oder tiefe Töne und sollte nicht schrill oder gar „piepsig“ zurechtunterrichtet werden, auch die schwere Baßstimme muss Stimmlippenmasse bei hohen Tönen abgeben können).

2.1.2. Die Tätigkeit des Lehrers beim funktionalen Gesangunterricht

Das funktionale Stimmtraining bzw. der funktionale Gesangunterricht nach der RABINE- METHODE beruht auf der Akzeptanz der menschlichen Anatomie und ihrer evolutionären Herkunft als Grundlage. Die Kenntnis des ganzen Körpers mit muskulären, skelettalen und neurologischen Zusammenhängen wird angestrebt. Für die Unterrichtspraxis ist die Selbstwahrnehmung des Schülers im Rahmen des Prozesses von Wahrnehmung über Bewusstmachung zur Steuerung wesentlich (sensomotorisches Lernen). Aufgrund der Zusammenhänge von Doppelventilfunktion (s.o.), Stimm- und Atmungsfunktion sowie Körperhaltungs- und Bewegungsfunktion bilden die Anwendung außerordentlich differenzierter Körperübungen und eine verfeinerte Fragetechnik wichtige Elemente des Unterrichts. Zu funktionalem Hören und Sehen (s.u.), der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit sowie dem Wissen kommt noch die Fähigkeit zur Mitempfindung (Empathie). Prinzipiell wird akzeptiert, dass der Umgang mit der Gewohnheitshaltung des Schülers sowie das Anbieten und schrittweise Integrieren neuer Möglichkeiten immer mit genügend Zeit geschehen muss. Es kann daher auch kein wie auch immer geartetes Curriculum für die Gesangausbildung angeboten werden. Die hochwertige Ausbildung einer Stimme für den Kunstgesang bedarf immer eines qualifizierten Lehrers und ist keinesfalls autodidaktisch zu erreichen.

Für den konkreten Unterricht sind die Absichten und Wünsche des Schülers ebenso verpflichtend wie sein momentaner physiologischer und psychischer Zustand. Es werden, wie auch sonst üblich, Gesangstunden gegeben, bei denen die Artikulationsbasis, also der Stimmklang, immer Vorrang hat. Man kann von einer regelrechten Hierarchie sprechen:

Die Stimmlippenfunktion steht an erster Stelle (z.B. keine Hauchigkeit, kein gepresster Klang durch zu wenig oder zuviel Stimmlippenschließung, eine günstige Art der Massenankopplung für vollen, warmen Ton), dann folgt die Formung des Vokaltraktes als Resonanzraum (Kehlkopfsenkung, gute Formung der Rachen- bzw. Konstriktorenmuskulatur). Aufbauend auf dieser Grundlage kann dann die Artikulation der Vokale und schließlich auch die Konsonantenartikulation erarbeitet werden. Man kann feststellen, dass der Gesangunterricht in dieser Art in der Anfangszeit relativ langsam voranzuschreiten scheint (nie wird ein Schüler in der funktionalen Ausbildung nach der dritten Stunde prahlen können „ich singe jetzt schon Schubert-Lieder!“). Ist aber eine gute und sichere Basis gegeben, sind oft sehr schnelle Fortschritte zu erzielen. Dabei bleibt zu beachten, dass die Singstimme lebenslang etwas Veränderliches ist und auch lange abgelegte Gewohnheiten unter bestimmten Bedingungen wieder auftreten können. Mit der Literaturarbeit, die natürlich immer auch Bestandteil der Gesangausbildung ist, kann je nach Schüler unterschiedlich früh begonnen werden, sie steht aber immer in genau zu beachtendem Zusammenhang zu der stimmlichen Arbeit an sich. Die Literaturarbeit nimmt in der Regel den letzten Teil einer Stunde ein. Die zuvor gefundenen neuen Bewegungsmöglichkeiten mit ihren stimmlichen Auswirkungen können und sollen dann direkt in die Gesangliteratur des Tages einfließen. Bei guter Musik stellt sich stets heraus, dass die musikalischen Hinweise, die der Lehrer gibt, der Stimmfunktion entgegenkommen. Findet man also z.B. in einer Phrase der Komposition diejenige Note, auf welche eine musikalische Linie hinzielt und von der es dann sozusagen wieder einen genau komponierten Weg zu einem nächsten „Ziel“ oder zum Ende der Phrase gibt, wird sich zeigen, dass die gesangtechnische Realisierung fast immer dann von allein sehr viel leichter ist.

Nicht vergessen werden darf im Übrigen, dass sich der Gesangschüler seinem Lehrer sehr viel weitgehender anvertraut oder öffnet, als das etwa beim Instrumentalunterricht der Fall ist. Die Singstimme kann sehr viel von der psychischen Situation des Schülers offen legen, und damit kommt dem Gesanglehrer neben der fachlichen Seite noch eine große Verantwortung zu. Genauso wie die Entdeckung neuer Möglichkeiten für die Stimme etwas sehr beglückendes sein kann, kann das Verlassen der Gewohnheiten (die ja immer eine eigene Begründung und damit Berechtigung haben) Verstörung oder Angst auslösen. Damit ist sehr behutsam umzugehen und man muss wissen, dass sich immer auch Situationen beim Schüler zeigen und unterschiedlichste Probleme ans Licht kommen können, die keineswegs direkt mit der Stimme zusammenhängen.

2.1.3. Funktionales Sehen

Beim Gesangunterricht in funktionaler Ausrichtung spielt das Sehen eine dem Hören ähnlich wichtige Rolle. Der trainierte Lehrer kann sozusagen mittels „Röntgenblick“ die skelettale Situation erkennen und genauen Aufschluss über die Haltung des Schülers gewinnen. Er nimmt auch die muskuläre Situation sehr weitgehend wahr und kann Beweglichkeit und Festhaltungen einschätzen. Deutlich sichtbar sind meist die Aktivitäten der Mimikmuskulatur und die Kehlkopfstellung.

Es gilt dann, diese Informationen nach diversen Kriterien einzuordnen: Was ist die Gewohnheitshaltung des Schülers, wie ist seine momentane Situation, in welcher Relation steht das zu Wünschen des Schülers und zu den bei der trainierten Stimme erforderlichen Parametern, zu den Möglichkeiten des Schülers, und ergibt sich aus diesen Erkenntnissen ein Ziel für die Unterrichtsstunde? Wie ist der Zusammenhang zu dem, was zu hören ist?

Selbstverständlich kann nicht all dies immer gleichzeitig berücksichtigt werden. Und doch ist es so, dass der Lehrer lernen kann und soll, intuitiv Übungen auszuwählen, bei denen die zuvor genannten Kenntnisse und Beobachtungen unbewusst im Hintergrund stehen. Im Grunde ist es geradezu auch ein regelrechter Lernprozess für den Lehrer, aufbauend auf anatomische, physiologische Kenntnis und mithilfe seiner optischen und akustischen Eindrücke schließlich ganz seiner Intuition zu vertrauen.

2.1.4. Funktionales Hören

Das Hören im funktionalen Gesangunterricht wird wohl immer wie im konventionellen Rahmen in einem gewissen Maß ein analytisches Hören sein. Selbstverständlich wird der Lehrer immer versuchen, seine Höreindrücke in Relation zu einer vermuteten Entstehungsart des Gehörten zu setzen. Wichtig ist jedoch, in erster Linie die aktuelle Situation aufzunehmen, den momentanen Zustand der Stimme nicht nur zu erkennen, sondern immer auch anzuerkennen als etwas zunächst Positives und aus der Situation des Schülers heraus Gerechtfertigtes. Man wird aus einem gesungenen Ton, aus einer Übung oder einem Literaturbeispiel als Ausgangspunkt für den weiteren Verlauf einer Unterrichtsstunde den besten Aspekt auswählen, niemals einen zu suchenden größten Fehler. Das Ziel für die Stunde sollte sich daraus ergeben und im Verlauf der Stunde eintretende Veränderungen werden aus der gleichen Grundhaltung heraus eingeschätzt.

Dass auch ein funktional vorgehender Lehrer das mögliche Klangbild einer ausgebildeten Stimme mit ihrem hochwertigen Oberton- bzw. Formantenaufbau über gutem Grundton und die Möglichkeiten einer solchen Stimme kennen muss, ist ohnehin klar. Die Fähigkeit, einzelne Bestandteile eines Tones herauszuhören und in ihrer Stärke abzuschätzen, muss er selbstverständlich ebenfalls trainieren. Schließlich ist noch die Fähigkeit wichtig, den Stimmklang im meist kleinen Unterrichtsraum quasi hochzurechen auf die Verhältnisse in möglichen größeren Aufführungsräumen. Ein im kleinen Raum vielleicht scharf oder sogar rau wirkender Klang kann auf der Bühne genau richtig, tragfähig und schön sein. Dennoch bleibt für effektives Unterrichten auch hier die Intuition im Zusammenhang mit dem funktionalen Sehen leitend, und diese soll nicht durch ein rein technisches Vorgehen gestört oder gar ersetzt werden.

2.2.1. Die Aufgabe des Intonateurs im Orgelbau

Der Orgelbauer im Fachbereich „Klang“, der Intonateur, bringt die vom Pfeifenmacher hergestellten einzelnen neuen Orgelpfeifen zum Klingen und gibt damit dem ganzen Instrument die klangliche Gestalt. Dabei wird unterschiedlich gehandhabt, ob er auch der musikalische Gestalter an sich ist, ob er also auch schon planend vorarbeitet und sich die zu erreichenden Einzel- und Gesamtklangfarben überlegt und die dafür nötigen Pfeifenmaße und -Bauarten festlegt, oder ob das von jemand anderem oft in Zusammenarbeit mit Sachverständigen geschieht und er dann lediglich Realisator ist. Die Aufgabe des Intonateurs in der Werkstatt erfordert eine gute Abschätzung der späteren Wirkung im stets viel größeren Kirchenraum, der dann im zweiten Teil der Arbeiten vor Ort gut gefüllt werden muss. Jede einzelne Klangfarbe, deren Mischungen und der oft sehr machtvolle Gesamtklang müssen also auf den Kirchenraum abgestimmt werden. Die klanglichen Ziele können sehr verschieden sein: von Kopien historischer Werke und Klänge bis zu experimentellen Wirkungen sind alle Schattierungen je nach künstlerischer Absicht bzw. Kundenwunsch möglich. In den meisten Fällen strebt man natürlich an, dass ein möglichst breites Literaturspektrum auf dem fertigen Instrument darstellbar ist und dass die Orgel anregend für das wichtige liturgische Improvisieren ist. Die Orgel ist ja das einzige Instrument, auf dem im Sinne „klassischer“ oder „ernster“ Musik noch heute sehr viel improvisiert wird. Schon in der Planung wird die grundsätzliche Richtung vorgegeben, und aufgrund der speziellen Wesenheit der Orgel entstehen dann poetische, malerische, gravitätische, machtvolle, schrille, nasale, festliche Klänge.

2.2.2. Die Tätigkeit des Intonateurs im Orgelbau

Eine neu angefertigte Pfeife klingt in der Regel noch überhaupt nicht. Es müssen verschiedene Handgriffe an jeder einzelnen der mitunter mehreren Tausend Pfeifen verrichtet werden, bis überhaupt ein Ton an sich entsteht. Hierfür gibt es in der Regel genaue Vorgaben, die sich aus der klanglichen Absicht und den Kenntnissen und Erfahrungen ergeben. Dann wird in der Regel noch in der Werkstatt jede einzelne Pfeife „vorintoniert“, also schon weitgehend in die Nähe des gewünschten klanglichen Ergebnisses gebracht. Das geschieht auf einer kleinen Gebläsevorrichtung oder mittels Anblasen mit dem eigenen Atem. Letzteres wird sehr gerne gemacht, da der Intonateur so das Anspracheverhalten und die Entstehung der Klangfarbe sehr genau und schnell beurteilen kann. Es bläst dann mit verschiedenen Drücken in die Pfeife hinein und begutachtet daraufhin, was noch zu tun ist. Dieser Vorgang entspricht also quasi dem Blockflötenspiel und verlangt einen stabilen, oft relativ hohen Luftdruck, den die Lunge zu liefern hat und den der Intonateur genau zu produzieren übt (im Orgelbau spricht man von Winddruck). Fast immer ist dafür eine aktive, kontrahierte Bauchmuskulatur nötig, denn die erforderlichen Drücke können bis zu 100 mm/WS, das sind 0,01 bar, betragen. Das Anspracheverhalten wird geprüft, indem die Zunge eine Art Ventil imitiert mittels sozusagen gesprochener Konsonanten „t“ oder „d“. Vieles erinnert also beim Anblasen der neuen Pfeifen an das Blasinstrumentenspiel. An den Pfeifen sind dann im Grunde alle Maßnahmen erlaubt, die den Ton verbessern oder die Ansprache sichern, wenn damit das vorher festgelegte klangliche Ziel zu erreichen ist. Es wird also gefeilt, geschnitten, gebogen, gehämmert usw. Natürlich versucht man aber immer, die Pfeifen schon möglichst gut in die Richtung anzufertigen, die dann den gewünschten Zielen nahekommt. Für die Arbeiten steht aus Kostengründen oft nicht sehr viel Zeit zur Verfügung. Pro Register Vorbereitungsarbeit in der Werkstatt kann man etwa zwei Tage Arbeitszeit rechnen und dann nochmal ungefähr die gleiche Zeit in der Kirche am aufgebauten Instrument. Das ist von Werkstatt zu Werkstatt allerdings sehr unterschiedlich. In der Werkstatt GERALD WOEHL in Marburg, wo der Verfasser genau diese Aufgabe hat, wird relativ lang und sorgfältig am Klang der Orgeln gearbeitet, um ihnen nicht nur Kraft und Brillanz, sondern auch Wärme und Poesie zu geben.

2.2.3. Sehen bei der Orgelpfeifenintonation

Wie bei jeder handwerklichen Tätigkeit ist auch bei der Orgelintonation das Sehen wichtig, um schnell und sicher die richtigen Entscheidungen zu treffen. Es ist aber keineswegs so, dass ein schönes Aussehen der Pfeifen oder der ganzen Orgel irgendwie Garant für einen guten Klang ist. Man findet viele Beispiele von handwerklich sehr mäßigen Instrumenten, bei denen auch die Pfeifen auf billigste Weise gefertigt und in einem durchaus schlechten Zustand sind, die aber phantastisch klingen. Das Orgelpfeifenmaterial (Zinn, Blei, Holz) ist schließlich etwas sehr Bildbares; hat man sich also mit einem Handgriff vertan, so ist der Fehler praktisch immer reparabel.

2.2.4. Hören bei der Orgelpfeifenintonation

Das Hören spielt im Orgelbau wie im Instrumentenbau allgemein eine außerordentlich wichtige Rolle. Ist, wie gesagt, bei der Werkstattarbeit die Kenntnis der zu erreichenden Klanggestalt und die Abschätzung der Wirkung jeder einzelnen Pfeife im Raum wichtig, so wird dann im Kirchenraum immer wieder am Instrument und aus dem Kirchenraum heraus probiert, abgehört und vorgespielt. Daraufhin entscheidet sich das jeweilige weitere Vorgehen. Erst in der Kirche werden die definitiven Luftdrücke (der Orgelbau spricht von „Winddruck“) festgelegt. Hier arbeiten häufig auch Sachverständige und Organisten mit, welche die Hinweise geben, in welche Richtung der Klang noch geändert, modifiziert, verfeinert werden sollte. Grundsätzlich ist bei der Orgelintonation ähnlich wie im Gesanguntericht ein gut trainiertes Gehör hinsichtlich klanglicher Strukturen wichtig, dazu sollte noch ein gutes Gedächtnis für Klangfarben über Jahre und Jahrzehnte hinweg bestehen, um erforderlichenfalls klangliche Aspekte jederzeit abrufen oder rekonstruieren zu können.

2.3. Orgelstimmen, Klavierstimmen

„Als Orgelbauer müssen Sie doch sicher das absolute Gehör haben, oder?“ Diese Frage kennen alle in diesem Beruf tätigen und sind es gewohnt, sie mit der Begründung zu verneinen, dass die Arbeit an den meist mehr oder weniger verstimmten Instrumenten ja dann eine enorme Qual bedeuten würden. Tatsächlich vollzieht sich der Stimmvorgang im Orgelbau zu einem guten Teil mittels moderner, sehr leistungsfähiger Stimmgeräte. Diese geben nicht nur die gewünschte Tonhöhe äußerst genau an, sondern verfügen auch über eine Palette von unterschiedlichen Stimmungssystemen. Heute wird im Instrumentenbau nicht nur bei Restaurierungen, sondern auch bei Neubauten sehr gerne mit historischen Temperierungen gearbeitet, bei denen die Haupttonarten reinere Terzen bekommen (die kleiner sind als die vom Klavier gewohnten gleichstufigen). Für den Wohlklang der Orgeln wird das sehr geschätzt. In der historischen Aufführungspraxis wird immer mit solchen Stimmungen gearbeitet, selbst Gesangensembles wie etwa das HILLIARD-ENSEMBLE singen mitunter sozusagen „historisch gestimmt“ mit verblüffender Genauigkeit. Der Orgelbauer kann die vielen unterschiedlichen Systeme kaum zuverlässig im Gehör haben und ist also für die modernen Stimmgeräte dankbar. Dazu ist ja noch die Raumtemperatur zu beachten, denn pro Grad Celsius steigt der Ton einer labialen Orgelpfeife um 0,8 Hz. Der Orchester- und Klavierkammerton liegt heute normalerweise bei mindestens 443 Hz (also etwas über den theoretischen 440 Hz, die als Stimmtonhöhe schon länger nicht mehr im Gebrauch sind), der tiefe Stimmton in der alten Musik bei 415 Hz, was einen genauen Halbton tiefer als 440 Hz ist. Man muß also genau festlegen, bei welcher Raumtemperatur gestimmt werden soll.

Die Arbeit geschieht auf optischem Wege: eine stroboskopische Anzeige gibt Auskunft über die Richtigkeit des zu stimmenden Tones. Hierbei kann also das Gehör sehr geschont werden. Aliquotregister, also solche, bei denen nicht der Grundton, sondern ein Oberton erklingt, und solche, die aus vielen hohen Obertonreihen zusammengesetzt sind, stimmt man jedoch nach wie vor mit dem Gehör. Der Orgelbauer ist es also gewöhnt, reine Intervalle (vor allem Oktaven, Terzen und Quinten) schwebungsfrei zu stimmen. Solche völlig reinen Intervalle kommen in der gleichstufigen Stimmung überhaupt nicht vor, abgesehen natürlich von der Oktave.

Klaviere werden allerdings auch heute noch am besten nach Gehör gestimmt, was eine hochqualifizierte Tätigkeit ist. Man sagt, dass nur so die Stimmung wirklich passend und haltbar auf die Verhältnisse des Instrumentes hin angelegt werden kann. Hier werden allerdings die Oktaven zum unteren und oberen Rand des Tonumfanges hin etwas gestreckt, also zu groß gestimmt. Merkwürdigerweise würden die hohen Töne sonst tatsächlich zu tief und zu matt wirken. Der schnell verklingende Klavierton erlaubt diese Art des Stimmens, die auf Orgelinstrumenten unschön verstimmt wirken würde.

2.4.1. Der Orgelintonateur als Gesanglehrer

Der Verfasser hat nach zehnjähriger Tätigkeit im klanglichen Bereich des Orgelbaues mit regelmäßigem funktionalem Gesangunterricht und mit der Ausbildung zum Gesanglehrer am RABINE-INSTITUT begonnen. Seit Beginn des eigenen Unterrichtens sammeln sich nun die Erfahrungen mit der Gleichzeitigkeit dieser beiden Tätigkeiten und es ergeben sich reichlich Gedankenanstöße und Fragen, die diese Berührung betreffen. Hinzu kommen noch die langjährigen Erfahrungen als Kirchenchorleiter und Chorsänger, aber auch als Gesangsolist und als Sänger in sehr verschiedenen Ensembles der Bereiche „alte Musik“ und „Closed harmony“. Es war für den Verfasser schon als Kind überaus fesselnd, die ausgesprochen unterschiedlichen Stimmen der fünf Mitglieder der berühmten COMEDIAN HARMONISTS quasi wie Orgelregister unterscheiden zu üben oder gar deren Klang nachzuahmen.

2.4.2. Chancen und Nutzen der Orgelbaukenntnisse beim Unterrichten

Schon im Verlauf der Ausbildung zum CRT-Gesanglehrer am RABINE-INSTITUT zeigte sich, dass akustisches Grundwissen, wie es der Orgelbauer mit Tätigkeitsschwerpunkt Klang selbstverständlich besitzen muss, das Verständnis der für die Singstimme wichtigen akustisch-physikalischen Sachverhalte bedeutend erleichtert. Teiltontabellen, Klanganalysen und ähnliche Dinge erschließen sich problemlos. Speziell das theoretische System des Obertonaufbaues mit Grundton, Vokalformanten und Sängerformant, Schrillheit, Nasalität ist besser zu überblicken, wenn in diesem Bereich Vorkenntnisse und Übung vorhanden sind.

Wichtiger erscheint noch das damit verbundene Gehörtraining. Ein aufmerksamer Orgelintonateur kann leicht dahin gelangen, im gesungenen Ton die Frequenzbereiche einzelner Formanten zu erkennen und in ihrer Stärke einzuschätzen. Jeder Orgelbauer ist auch gewohnt, mit einem sehr großen Frequenzbereich gehörmäßig umzugehen. Instrumente mit Baßregistern an der unteren Hörgrenze sind nicht allzu selten (das tiefe C eines Orgelregisters 32' mit einer Grundtonfrequenz von nur 16 Hz und einer realen Pfeifenlänge von etwa 10 Metern wird von den üblichen Stimmgeräten mitunter schlecht erfasst und muss dann nach Gehör gestimmt werden!). An der Obergrenze werden Töne mit ca. 10000 Hz noch als Orgelpfeifen gebaut, die klingende Länge solcher Pfeifen beträgt nur wenige Millimeter. Noch höhere Töne kommen als Obertöne größerer Pfeifen vor.

Hinzu kommt noch ein weiterer Aspekt, der für den Gesanglehrer in einem womöglich kleinen Unterrichtsraum eine gewisse Schwierigkeit darstellt. Der Intonateur lernt sehr genau abzuschätzen, wie eine Orgelpfeife aus der Nähe, vielleicht mit dem Mund angeblasen, später im großen Kirchenraum klingt. Er kennt also den Grad z.B. an Nebengeräuschen, die letztlich nicht hörbar sind und deren „Glätten“ den Klang stumpf machen würde. Auch das Maß an Glanz einer Singstimme, welches aus der Nähe vielleicht penetrant wirkt, im Saal aber gerade die nötige Klarheit und Brillanz gibt, kann er leichter einschätzen. Er kennt auch die dynamischen Abstufungen genau und weiß, wie ein leises Register sich aus der Nähe und aus der Ferne anhört. Für den Gesanglehrer ist es immer wichtig, zu wissen bzw. immer wieder praktisch zu überprüfen, wie laut etwa eine piano-Phrase im Unterrichtsraum sein muss, damit sie auf der Bühne noch hörbar ist. Nur selten hört der Lehrer seine Schüler ja einmal sozusagen im Ernstfall, obwohl das sicher sehr hilfreich sein könnte.

Das dem Orgelbauer durch regelmäßiges Pfeifenanblasen geläufige eigene Atmen mit teilweise erheblichem Überdruck und der gewohnte Umgang mit der Auswirkung von Druckveränderungen auf verschiedene Arten von Tonproduktion kann das gehörmäßige Erfassen von zu hohem oder auch zu niedrigem Druck bei der Phonation sehr erleichtern.

2.4.3. Probleme durch die Orgelbaukenntnisse

Es mag banal erscheinen darauf hinzuweisen, dass die Gefahr besteht, die Stimme des Schülers als zu bearbeitendes Material anzusehen und dann sozusagen eine Stimme auf Bestellung zurechtzumachen. Aber auch schon ein klein wenig von einer solchen Einstellung wäre ausgesprochen schädlich und wenn der Verfasser als gelernter und jahrelang ausübender Orgelbauer nicht immer wieder zumindest latent das Bestreben bei sich beobachten würde, Stimmen zu „formen“, „zurechtzubiegen“, würde dieser Teil der Betrachtung unnötig sein. Im Übrigen ist es ja fraglos so, dass das Unterrichten als „Herausbilden“ nach einem Ideal oder nach einer als schön empfundenen Vorbild-Stimme (nicht selten die des Lehrers!) und somit nach einer bestimmten Ästhetik ja außerhalb der funktionalen Methode vielfach betrieben wird. Wenn es dann gelingt, etwa einen Koloratursopranklang wie denjenigen von ERNA BERGER oder einen Tenorklang wie den von NICOLAI GEDDA nachzubilden (um ohne eine Aussage über deren Stimmen beliebige Beispiele zu nennen), ist das Unterrichtsziel erreicht und die Voraussetzung für eine steile Karriere ist scheinbar gegeben. Die Frage nach der Angemessenheit oder der gesundheitlichen Verträglichkeit solchen Unterrichtens muss man aber sehr entschieden stellen! Und es ist ja nichteinmal auszuschließen, dass mitunter Schüler mit gutem sängerischem Instinkt tatsächlich per Nachahmung beachtliche Erfolge haben können. Derartige Ausnahmen bestätigen aber nur die recht traurige Regel, dass die reine Imitationsmethode nur zu einem nicht authentischen, vorläufigen, jedenfalls problematischen Ziel führen kann.

Es ist leider noch hinzuzufügen, dass sogar die Meinung vertreten wird, die frisch mutierte, junge Stimme kann (oder gar muss) sofort in eine mehr oder weniger beliebig festzulegende Richtung getrimmt werden und so sei dann z.B. ohne weiteres dem Mangel an guten Tenören abzuhelfen. An die lange, höchst problematische und zugleich glanzvolle und düstere Zeit des regelrechten Züchtens der Kastratenstimmen wird man hier erinnert! Wenn man sich klar macht, nach wie vielen Jahren auch bei guter Ausbildung erst z.B. die Entscheidung für ein bestimmtes Fach getroffen werden kann, wird die Absurdität dieser Zuchtmethode deutlich. Es ist geradezu unvermeidlich, dass die angestrebten Ziele hier von Vorneherein nur mit starken physiologischen Hilfsaktivitäten erreicht werden können, falls nicht zufällig die richtige Stimmlage getroffen wird. Schwere gesundheitliche Schäden sind fast unvermeidlich! Das bedeutet also, dass allen Tendenzen, nach einer vorgegebenen Idealvorstellung (nicht zu verwechseln mit den gültigen Qualitätsmerkmalen der gut ausgebildeten Stimme!) vom Stimmklang her zu unterrichten, auszuweichen ist, auch wenn nur unbewusst durch die langjährige Erfahrung mit dem Instrumentenbau eine latente Tendenz in diese Richtung zu bemerken ist.

Orgeln und Orgelregister nach einem bestimmten klanglichen Wunsch kann man bestellen und in einer bestimmten Zeit liefern, Singstimmen nicht.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Tonhöhenregulierung. Jeder Instrumentenbauer ist immer sehr stark auf genaue Tonhöhe fixiert, da er ist das Stimmen als tägliche Arbeit gewohnt ist. Es ist nicht immer leicht, dem Schüler die nötige Zeit zu geben, bis er durch die Fähigkeit der unbewussten Gehirnhälfte von selber eine sehr gute Tonhöhengenauigkeit anbieten kann. Eine regelrechte Tonhöhentoleranz ist hierbei wichtig. Chorleiterische Arbeit bringt übrigens ähnliche Konflikte, und man kann die Aufmerksamkeit der Chorleiter auf sauberes Singen ja durchaus nachvollziehen.

Die eigenen Atmungsgewohnheiten können unter Umständen durch das häufige Anwenden der Überdruckfunktion beim Pfeifenanblasen ähnlich beeinflusst werden wie durch das Blasinstrumentenspiel. Wenn man also aus Gewohnheit ohnehin mit übermäßigem Luftdruck singt, kann die notwendige regelmäßige Anwendung dieser Technik im Beruf das Erlernen neuer Möglichkeiten eventuell erschweren. Dieser Aspekt betrifft also weniger das Unterrichten, als das eigene Singen.

2.5. Persönliche Erfahrungen und Ausblick

Hören und Sehen sind in der funktionalen gesangpädagogischen Arbeit gleichbedeutend. Diese Erkenntnis war für den Verfasser als berufsbedingtem „Gehör- und klangfachmann“ eine neue interessante Erfahrung. Sie steht auch in einem Zusammenhang zu der enormen Bereicherung, die sich durch die wunderbare Aufgabe, anderen bei der Entwicklung ihrer Gesangstimme helfen zu können, ganz allgemein ergibt. Und es ist ja schon erlaubt, sich an der klanglichen Veränderung einer Stimme zu freuen, so wie man das bei der Arbeit an einer Orgelpfeife oder einem anderen Musikinstrument auch tut.

Dem Verfasser ist als Gesanglehrer auch schon ein Fall begegnet, wo er fast den Eindruck hatte, ein nahezu beliebig formbares Instrument vor sich zu haben. Es handelte sich um eine 19-jährige Schülerin, die zwar musikalisch hochgebildet und äußerst motiviert war, aber seit der Kindheit das Singen völlig unterlassen hatte aufgrund einer speziellen Situation. Bei dieser Schülerin zeigte wirklich jede große oder feine (fast beliebige) Übung sofort enorme Auswirkungen, da zumindest für das Singen offenbar so gut wie keine Gewohnheiten vorhanden waren. Verblüffend leicht vollzog sich der Integrationsvorgang, wenn man überhaupt von einem solchen sprechen kann; alles wurde sofort begierig aufgenommen. Lediglich die Sprechstimme gab natürlich auch bei ihr bestimme Phonationsmechanismen und -gewohnheiten vor. Da die Schülerin aber eben ohne irgendein Singgefühl oder -konzept zum Unterricht kam, konnte sie jede Entwicklung ausgesprochen stark wahrnehmen und war außerdem gegenüber allem Werdenden äußerst offen. Auch eine phantasievolle beschreibende Sprache machte den Unterricht zu einem großen Genuss („dieser Ton war jetzt irgendwie kathedralig“, diese treffende Bemerkung über die Resonanzraumerweiterung in der „cupula“ wurde dann noch durch einen in der folgenden Stunde mitgebrachten großen Bildband über Kirchengewölbe illustriert!). Die schnellen Fortschritte in einem solchen Fall verlangen aber vom Lehrer auch große Umsicht und dürfen nicht in eine Leistungswettbewerbsituation münden!

Nicht einfach war zu Beginn der Unterrichtstätigkeit an sich das Loslassen der sonst immer vorangigen Tonhöhenkontrolle und -korrektur in ihrer Wichtigkeit. Hier ist es für den Verfasser durchaus so, dass er etwas hintanstellen muss, was er als Orgelbauer und Chorleiter äußerst gut kann, und das ist nicht immer leicht. Mit immer tieferem Einblick in die „innere Welt“ der Singstimmenentwicklung relativierte sich dieses Problem dann. Immerhin muss selbstverständlich der Gesanglehrer die Tonhöhengenauigkeit einschätzen können, aber eben nicht als Hauptparameter. Die menschliche Singstimme ist allerdings ein so bewegendes und faszinierendes Thema, dass dieses „Umlernen“ in der Handhabung akustischer Phänomene ein Vergnügen ist und das gegenseitige Befruchten der Tätigkeiten einen außerordentlichen persönlichen Gewinn bedeutet. Würden die Einflüsse auf die Chorleitertätigkeit auch sicher noch größer sein können bei eingehender Beschäftigung mit diesem Thema aus funktionaler Sicht, so stellt der Verfasser als Orgelbauer bei sich überraschenderweise aber eine allmähliche Veränderung des klanglichen Geschmacks fest. Der mitunter sehr gepresste Klang einer bestimmten Stilrichtung im Instrumentenbau will ihm gar nicht mehr so gefallen wie früher. Das dürfte sicher auch mit dem Erleben der eigenen Stimme zusammenhängen und mit der verblüffenden und beglückenden Erfahrung, dass eine beträchtliche stimmliche Vergrößerung ohne grundsätzliche Druckerhöhung erreicht werden kann.

Wenn das hier behandelte Thema gelegentlich auch in einer Orgelbaufachzeitschrift dargestellt werden soll, so ist dann sicher keine Anleitung zum richtigen Intonieren von Orgelpfeifen angestrebt (so dicht und umfassend liegen Pfeifen und Stimme ja doch nicht beieinander). Zu leicht führt hier der Weg in eine Art Ideologie, wie es das verschiedentlich schon gibt. Ein Beispiel ist der Orgelbauer, für den das Pfeifen der Singvögel das einzig wahre Vorbild für den Orgelklang ist.

Dennoch könnte es eine faszinierende Aufgabe sein, gerade beim Bau von großen raumfüllenden Orgelwerken anstelle der immer wieder anzutreffenden Schrillheit und Schärfe oder auch Nasalität des Gesamtklanges von der hochwertigen Singstimme zu lernen: die Flexibilität, die Wärme und Innigkeit und die Brillanz des Sängerformanten einer hochwertigen Singstimme könnten zum Vorbild genommen werden. Möglicherweise würden wissenschaftlich genaue Frequenzanalysen und ähnliches hierfür nützlich sein. Vielleicht ist es aber auch so, dass wie bei gutem Gesangunterricht erst die Intuition, hier gegründet auf die Kenntnis der Singstimme und mithilfe des am Gesangunterricht geschulten Gehörs, zu wirklich neuen musikalischen Ergebnissen führt!

Anhang

3. Die Legende von der Vox humana im Kloster Weingarten

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„Gabler arbeitete jahrelang an der Lösung des Problems, mittels eines Orgelregisters die menschliche Stimme nachzuahmen; trotz aller Auswahl der Holzarten und Metallmischungen kam er nicht zum gewünschten Resultat. Da flüsterte ihm der Böse bei Nacht ins Ohr, dass er ihm helfe, wenn er ihm seine Seele verschreibe. In einer stürmischen Nacht machte sich Gabler heimlich aus dem Kloster und wanderte dem Lauratal zu. Am Laurastein hatte er sich um Mitternacht einzufinden. Und siehe! Mit dem ersten Glockenschlag der Hosanna erschien der Leibhaftige als Jäger verkleidet. Gabler verschrieb mit Blut dem Teufel seine Seele und bekam dafür ein Stück Metall, das er zum Pfeifenguss verwenden sollte.

Das teuflische Metall ward in die Pfeifen gegossen und herrlich erklang die Vox humana wie eines Menschen Stimme. Aber o weh! Anstatt heiliger Melodien sang sie von der Lust der Welt, so dass viele Mönche ihre Zelle verließen und sich in die Weltfreuden stürzten. Der Abt lässt Gabler voll Bestürzung vorführen, und der gesteht die „schwarze Tat“. Es wird ihm der Prozess gemacht und er soll mitsamt dem unheimlichen Register im Klosterhof verbrannt werden. Zuvor aber hat er Ersatz für das teuflische Register schaffen. Das gelang dem Meister nun so gut, dass ihm der Abt gnädig das Leben schenkte.“

Diese Legende aus der Bauzeit der berühmten und bis heute erhaltenen Orgel des Klosters Weingarten, an der JOSEF GABLER zwölf Jahre gearbeitet hatte, blieb bis in unsere Zeit lebendig; noch im Jahre 1937 wurde sie von Weingartner Bürgern auf der Münstertreppe als Heimatspiel aufgeführt. (Zitiert nach H. Hamm, 1993)

4. Literaturhinweise

Für die Ausführungen zur Singstimme allgemein und zur funktionalen Gesangausbildung speziell wurden im Wesentlichen eigene Aufzeichnungen, Protokolle und das Unterrichtsmaterial aus der CRT-Gruppe 10 im Rabine-Institut benutzt.

Weitere Quellen zu diesem Bereich:

JOHANNES W. ROHEN, ELKE LÜTJEN-DRECOLL: Funktionelle Anatomie des Menschen, 10.Auflage, Stuttgart 2001

PIER FRANCESCO TOSI, JOHANN FRIEDRICH AGRICOLA: Anleitung zur Singkunst, revidierter Faksimile-Nachdruck, Wiesbaden 1994

ALOIS GREITHER: Wolfgang Amadeus Mozart, Hamburg 1962

JOHANN JOACHIM QUANTZ, Versuch einer Anleitung die Flöte traversiere zu spielen, Faksimile-Nachdruck, München 1992

FRANZISKA GOTTWALD: Betrachtung bestimmter Zungenmuskelaktivitäten und ihre Einflüsse auf die Stimmqualität, Diplomarbeit, Weimar 2002

THOMAS SEEDORF (Hg.): Gesang (MGG Prisma), Kassel/Stuttgart 2001

Für die Bereiche Akustik allgemein und Orgelpfeifenklang speziell dienten vorrangig als Quellen:

HANS BORUCKI: Einführung in die Akustik, Mannheim 1980

WOLFGANG ADELUNG: Einführung in den Orgelbau, Wiesbaden 1979

CHRISTHARD MAHRENHOLZ: Die Orgelregister, Reprint Lauffen/Neckar 1987

HEINRICH HAMM: Die Gabler-Orgel der Basilika Weingarten, Passau 1993

DOM FRANCOIS BEDOS DE CELLES: Die Kunst des Orgelbauers, deutsche Übersetzung von Christoph Glatter-Götz, Laufen/Neckar 1977

FRANK-HARALD GRESS: Die Klanggestalt der Orgeln Gottfried Silbermanns, Leipzig 1989

Kilian Gottwald · Orgelbaumeister · Karlstraße 6 · 35287 Amöneburg
Tel.: 06422-890789 · Mobil: 01525-4660132 · E-Mail: kiliangottwald@web.de

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